Rechnen und Mathematik

Allgemeine Unterrichtsziele

„An den Waldorfschulen wird im Rechenunterricht eine Gliederung in drei Stufen vorgenommen. Auf der ersten Stufe, welche die ersten fünf Schuljahre umfasst, wird das Rechnen aus einem mit den Lebensfunktionen des Kindes noch intim verbundenen Tätigkeitsbereich hervorgeholt und allmählich in der Richtung von innen nach außen erweitert. Auf der zweiten Stufe, in den Klassen 6 bis 8, tritt vor allem der praktische Aspekt in seine vollen Rechte ein … Der Übergang zur dritten Stufe, vom 9. Schuljahr aufwärts, ist durch das Hinzutreten des rationalen Gesichtspunktes charakterisiert.“ So formuliert das Hermann von Baravalle als der erste Mathematiklehrer an der Waldorfschule in Stuttgart in seinem Buch «Rechenunterricht und der Waldorflehrplan».

Klassenstufen 1 - 3

Die Dynamik der Willenstätigkeit soll sich an der Erfahrung des Zählbaren verinnerlichen. Die Motivation durch bildhaftes Schildern der Zahlenqualitäten soll geweckt werden. Dieser Doppelaspekt ist wichtig: Einerseits Schulung der leiborientierten Sinne durch Bewegungserfahrungen, Durchformung der Bewegungsmöglichkeiten (Grob- und Feinmotorik) und Koordinationsübungen. Andererseits Verinnerlichung der ausgeführten Tätigkeiten in seelisches Handeln (= Rechnen). ...

Um mit quantitativen Zahlenvorstellungen frei umgehen zu können, muss ein innerer Zahlenraum geschaffen werden, in dem man sich zunächst rhythmisch zu bewegen lernt, den anfänglichen Zählrhythmus variierend. Dies leistet u. a. das beim rhythmisch-bewegungsmäßigen Lernen der Einmaleins-Reihen geschulte und gebildete Gedächtnis. Wichtig scheint es, zu Beginn des eigentlichen Rechnens möglichst konkret und anschaulich vorzugehen und das Leitmotiv zu berücksichtigen: „Vom Ganzen in die Teile". Das heißt, es soll das richtige Verhältnis zwischen analytischem und synthetischem Denken hergestellt werden...

Klassenstufen 4 und 5

Mit dem Erreichen des neunten Lebensjahres vollzieht sich bei dem Kinde ein entscheidender Umschwung. Sein ungebrochenes Verhältnis gegenüber der Umwelt wird anders, distanzierter. Die frühere Harmonie des Zusammenklangs Umwelt und Seelenwelt geht buchstäblich „in die Brüche". Dieser Wandlung im seelischen Erleben folgt auch der Lehrplan im Rechenunterricht, wenn er im 4. Schuljahr das Kind an den Umgang mit gebrochenen Zahlen heranführt. Das Kind findet dann in der Begegnung mit dem Lehrstoff etwas vor, das es auch in seinem Inneren erfahren hat. ...

Daran schließt sich das Rechnen mit Dezimalbrüchen als praktische Vereinbarung an. Nach dem Überschreiten einer „Teilbarkeitsgrenze" können die Schüler die Praktikabilität des Rechnens mit Dezimalzahlen im 5. Schuljahr entdecken. ... Ebenfalls in der 5. Schulstufe kann das Formenzeichnen in ein elementares Geometrisieren übergeführt werden. Wiederum kann man mit den linearen Urpolaritäten Kreis und Gerade beginnen. Damit sich der Schüler diese beiden geometrischen Gebilde möglichst intensiv zum Erlebnis bringt, ist es angeraten, vorerst ohne Zirkel und Lineal, also aus freier Hand, zu zeichnen. ...

Klassenstufe 6 - 8

Sind bisher die Begriffsbildungen über handlungsbezogene Bildsituationen im Seelischen verankert worden, kann etwa um das 12. Lebensjahr das Erworbene zunehmend mit der Kraft der nun als eigene Fähigkeit erlebten Logik durchdrungen und geordnet werden. In der Algebra wird dieser Schritt deutlich: von der Handhabung des Rechnens führt er zur Betrachtung von Rechenprozessen und zum Erkennen von allgemeingültigen Zusammenhängen. ...

Bei unausgelesenen Klassen sind ... besondere methodische Fragen und Forderungen an den Lehrer gestellt. Innerhalb der Jahrgangsklasse wird er mit differenzierten Aufgabenstellungen arbeiten müssen, die aber alle von einer mathematischen Grundfrage ausgehen bzw. zu ihr hinführen. Das Rechnen mit praktischen Aufgaben bietet hierzu ein reiches Übungs- und Betätigungsfeld für die Schüler, kann es doch geradezu zu einer Lebenskunde gestaltet werden, welche den Schülern Zugang zu verschiedenen Tatsachenbereichen eröffnet. ... Rechnen ist Willenserziehung im Bereich des Denkens. Deshalb werden häufig etwa ab der sechsten Schulstufe zusätzlich zu den Rechenepochen Rechen-Übstunden als fortlaufender Fachunterricht erteilt.

In der Geometrie ergibt sich die ästhetische Qualität des Zeichnens nun nicht mehr aus der Dynamik, sondern aus der Ordnung. Hierzu muss der Schüler den sachgemäßen Gebrauch des Zirkels, Lineals und Zeichendreiecks erlernen. ... Was in der ersten Zirkelgeometrie staunend erlebt werden konnte, soll in der 7. und 8. Schulstufe gedanklich durchdrungen werden. Die geometrischen Besetze werden gesucht und formuliert...

Oberstufe: Übergeordnete Aspekte und allgemeine Unterrichtsziele

Der Kern der mathematischen Aktivitäten ist die Problemlösung. Das Wesentliche ist, wie man ein Problem löst, nicht, was man als „Antwort" erhält. Mit einem solchen Schwerpunkt geht die Schulmathematik von beiden Grundlagen der Mathematik aus: Phantasie (Induktion) im Anfangsstadium und logische Schlussfolgerung (Deduktion) im späteren Stadium der mathematischen Aktivität.

Die wichtigste Zielsetzung wird sein, die Denkfähigkeit der Schüler mit einer breiten Spannweite vom Raten bis zur logischen Schlussfolgerung zu entwickeln und ihnen Selbstvertrauen, Vertrauen in das Eigene Denken, zu geben.

Eine andere berechtigte Zielsetzung ist, die Schüler zu befähigen, Rechnungsmethoden im Alltagsleben anzuwenden und notwendige Vorkenntnisse für die Ausbildung nach der Schule zu geben.

Für die Hauptaufgabe jedoch ist es wertvoll, manche Aufgabenstellung in neue Zusammenhänge zu stellen: Wichtiger als die Einteilung in Fachgebiete wie Algebra, Funktionslehre etc. wird es sein, die Aufgabenstellungen nach unterschiedlichen heuristischen Methoden, um ein Problem „aufzurollen", zu gliedern. ...

Da das Denken eine wesentliche Äußerung unserer Ich-Tätigkeit ist, kann das Mathematisieren den Schülern ganz besondere Möglichkeiten zur inneren Entwicklung und aufschlussreichen Selbsterkenntnis geben. …

Klassenstufe 9

In dem für den Schüler neuen Gebiet der Kombinatorik und allenfalls in den Anfangsgründen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, womit in der 9. Klasse oft begonnen wird, kann er erfahren, dass das Denken über das Gegebene hinausgreifen und den allgemeinen Fall beherrschen kann, ihm ein Übungsfeld für formales, logisches Denken bietet und, ohne spezifische Voraussetzungen aus der Unterstufe (Klassenlehrerzeit), einen „neuen Einstig" ermöglicht. Die Gleichungslehre, die weitergeführt und vertieft wird, bietet durch ihre überschaubaren Lösungsgänge den wachsenden formalen Fähigkeiten ein gutes Übungsfeld. Dem zur Seite stehen alle möglichen Formen periodischer Rechenverfahren, die den Schüler in ein verstärktes Üben hineinführen, sowie Flächen- und Körperberechnungen.

Man kann an der Auseinandersetzung mit dem Dreieck neue Gesetzmäßigkeiten mittels einfacher Beweisverfahren erüben, wobei bereits Gelerntes zur Anwendung gebracht wird (z. B. Kongruenzsätze, 8. Schulstufe). Die Vorgehensweise ist analytisch, vom Konkreten zum Allgemeinen, von der geometrischen Konstruktion zum Beweis derselben. … Zudem soll der Schüler durch Übungen zu einem klaren Erlebnis der drei Dimensionen des Raumes kommen. Ausgangspunkt kann der Würfel sein, der die Raumesdimensionen übersichtlich repräsentiert. ...

 

Klassenstufe 10

FeldmesspraktikumDer Schüler soll „von der Kenntnis zur Erkenntnis" geführt werden (Rudolf Steiner). Dies bedeutet für die Unterrichtsmethodik einen völlig neuen Griff. Die Trigonometrie bietet dafür ein breites Übungsfeld. In den Winkelfunktionen entdeckt der Schüler ein völlig neuartiges Beziehungsgefüge und auch den Nutzen, der daraus zu ziehen ist. Die praktische Anwendung mathematischer Berechnungen soll erlebbar werden. Dies wird gefördert durch Querverbindungen zur Physik (Kosinussatz in der Statik; auch: Parabel beim Wurf) sowie im sogenannten Feldmesspraktikum (s. Abb.), welches ein praxisorientiertes Betätigungsfeld bietet, damit sich der Schüler messend, zeichnend mit der Erde - einem kleinen Teil davon – auseinandersetzt. Genauigkeit wird gelernt; das Ergebnis - nicht der Lehrer - korrigiert den Jugendlichen.Desgleichen lernt der Schüler … die besondere Bedeutung der Normalrisse kennen. Die verschiedenen Möglichkeiten der Bilderzeugung können den Ausgangspunkt der Betrachtungen bilden. In Anlehnung an die Perspektive werden räumliche Projektionen und Elemente der Projektiven Geometrie zeichnerisch erarbeitet. ...

 

Klassenstufen 11 und 12

Die bisher noch stärker getrennt behandelten Gebiete der Geometrie und der Algebra werden in der analytischen Geometrie zusammengeführt. Dem Schüler wird deutlich, wie geometrische Gebilde ihre Entsprechung in Gleichungen finden und wie neue geometrische Gebilde durch Gleichungen definiert werden können. Die Gerade wird behandelt als Spur einer Bewegung, der Funktionsbegriff wird deutlicher erarbeitet. Der Vektorbegriff wird - nach der Erarbeitung in der Physikepoche 10. Schulstufe - auch formal gesichert. ...

Eine neue Stufe des Denkens berührt der Schüler, indem Folgen und Reihen bis hin zum Grenzwert der Summe einer unendlichen Reihe behandelt werden. In der Zinseszinsrechnung wird erkannt, wie die gegen Null gehenden Schritte im Entstehen eines neuen Prozesses überwunden werden können. …

In der Analysis soll sich der Schüler aus dem rein Zahlenmäßigen einen Erlebniszugang zur Differential- und Integralrechnung schaffen. Grenzwerte von Folgen sollen als Stellvertreter eines endlosen Prozesses erfasst werden. Durch das Erarbeiten des Begriffes „Differenzenquotient" soll der Schüler jene neue Dimension in der Mathematik begreifen: Der Quotient zweier Differenzenfolgen, die beide gegen Null gehen, ergibt etwas völlig Neues. Das soll nicht nur angewandt werden, sondern durchschaut, erfahrbar und erlebbar sein. Dem Schüler sollen in der Analysis die Gleichungen so durchschaubar gemacht werden, „dass man ein Gefühl dafür kriegt, wie in den Gleichungen eigentlich die Dinge drinnen stecken" (Rudolf Steiner, GA 300/3 S. 154). Dann erst wird das Sinnenfällige, Graphische als Darstellung des Rechnerischen dazugestellt. ...

Im Erarbeiten der Grundlagen der Integralrechnung soll der Schüler erkennen, dass auch im Bereich der höheren Mathematik einem mathematischen Rechenvorgang (Differenzieren) ein dazu polarer entspricht, welcher wiederum eine neue Ebene der mathematischen Erfassbarkeit der Welt erschließt. ...

Zusammengestellt aus: "Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele einer Freien Waldorfschule", Tobias Richter (Hrsg.) Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 1995