Echt öde! - Voll coll!

Erinnern sie sich noch an die Zeit, als alles "super" oder "klasse” war, was unsere Bewunderung fand. Auch "toll" und "stark" waren einmal erste Wahl. Dann gab es eine Zeit, als etwas "heiß” und noch nicht "cool" war. Die Steigerungsform ”tierisch" wird auch heute noch verwendet, doch verrät derjenige, der diese Vokabel pflegt, dass er nicht mehr zu den Teens und Twens gehört. ”Echt“ und "voll" sind da schon akzeptabler. Uns ältere Zeitgenossen mag es etwas beruhigen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch die Ausdrucke ”atzend", "geil" und "krass" als abgegriffene Worthülsen auf der Schutthalde der Modewörter landen werden.

Es mag die Frage müßig erscheinen, wo und wie denn diese Wörter sich plötzlich aus dem tristen Dudengrau in ungeahnte Höhen und Gebrauchsfrequenzen emporheben. Allen Ausdrücken ist gemeinsam, dass sie eindeutig Zustimmung oder wie bei "öde" und "ätzend” Ablehnung verkünden. Deutlich ist, dass die gefällten Urteile nicht wirklich eine Qualität, sondern nur ein schwarz oder weiß, in oder out, ja oder nein erfassen. In den Unterhaltungen von Jugendlichen, aber zunehmend auch von Kindern, wurden noch nie so haufig eben diese abschätzenden Vokabeln benutzt wie zur Zeit.

Wir leben in einer Waren- und Konsumgesellschaft, und die Bedingungen prägen unseren Alltag nachdrücklich. Als Konsument kann ich nur zweierlei: eine Ware kaufen oder sie nicht kaufen. In dieser Hinsicht werden auch die Kinder und Jugendlichen heftig als potenzielle Kunden umworben. Die Millionen "Kids" zwischen 6 und 17 Jahren verfügten im Jahre 2012 über eine Kaufkraft von geschätzten 23,74 Milliarden Euro* . Die Steigerungsrate ist beachtlich. Die Werbebranche schätzt den Einfluss der Kinder auch auf das Konsumverhalten der Erwachsenen hoch ein. In drei Vierteln aller Spots kommen Kinder vor. Sie können sich beachtet fühlen, wo man ihnen doch sonst oft gleichgültig oder ablehnend begegnet. Das Warenprinzip erobert, so scheint es, spielend leicht alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens bis dahin, dass auch die Partnerbeziehungen den Konsumgesetzen unterworfen werden. Die Scheidungsraten sprechen dazu eine deutliche Sprache.

Auffallend ist, dass die Neigung zu urteilen in einem umgekehrten Verhältnis zum Urteilsvermögen zu stehen scheint: Je geringer die Fähigkeit ist, die Qualität einer Sache zu erkennen, desto größer scheint die Freude an einem glatten und pauschalen Urteil zu sein. Gespräche über Popgruppen, Fußballvereine oder Fernsehsendungen bestehen oft in jedem Satz aus einem abschätzenden Gesamturteil.

Auffallend ist ebenso, dass viele Erwachsene die Urteile von Kindern bewusst oder unbewusst ständig herausfordern. Es ist keine Seltenheit mehr, dass bereits Dreijährige danach gefragt werden, welche Kleidung sie schöner, welches Spielzeug sie lieber hätten und wen sie von ihren Freunden am besten fanden. Dadurch wird aber geradezu verhindert, dass ein Heranwachsender in späteren Jahren zu einer reifen Urteilsfähigkeit kommen kann. Eben jene Kinder, die es gewohnt sind, alles und jeden zu beurteilen, erwerben eine ganz wichtige Voraussetzung für ein späteres Urteilsvermögen nicht: Sie können sich nicht mit einer Sache wie selbstverständlich verbinden, sie nachahmend erleben, in ihr aufgehen oder schlichter gesagt sie lieben.

Jedem schnell gefassten Urteil, auch dem positiven, liegt eine Distanzierung zu Grunde, der keine wirkliche Begegnung in einer intensiven Wahrnehmung vorausgegangen ist. Sollen Kinder zu urteilsfähigen Erwachsenen werden, brauchen sie gute Vorbilder, brauchen sie Erzieher, die sich stets neu bemühen, ihre Umgebung wach und wertschätzend wahrzunehmen. Dies zu üben, bedarf es eigentlich nur des ernst gemeinten guten Vorsatzes. Der Alltag ist gespickt mit Situationen und Gesprächen, die Urteile herausfordern. Wir können uns aber auch dieser Urteile enthalten oder sie doch zumindest aufschieben und Fragen stellen, um uns mit der Sache selbst mehr zu verbinden. Dieser Versuch ist es wert zu einer Übung zu werden, die neue Erfahrungen verspricht.

Eine Erfahrung kann ich vorweg nehmen: Die Ausgabe des "Forums" (Schulzeitung) oder die Homepage ist weder cool noch ätzend, die einzelnen Artikel sind auch nicht gut oder schlecht sie sind es vielmehr wert gelesen zu werden, weil sie unser vielfältiges Schulleben widerspiegeln. Deshalb die Bitte: Bemühen sie sich jeden Beitrag ganz zu lesen und sich wertschätzend mit dem Inhalt zu verbinden, stellen Sie sich Fragen, suchen Sie aber auch die kritische Auseinandersetzung!! Viel Freude beim Lesen! (c) Uwe Gräßlin

 

* Hochrechnung des Marktforschungsinstituts "Iconkids & Youth" im Rahmen der Studie "Trend Tracking Kids 2012"